Interview mit der tschechischen Tageszeitung Lidové Noviny

Schwerpunktthema: Interview

9. September 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der tschechischen Tageszeitung Lidové Noviny ein Schriftinterview gegeben, das am 9. September erschienen ist: "Wir stehen alle vor der Herausforderung, gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation zu gestalten und da wird naturgemäß um Lösungen gerungen, die auch unterschiedlich ausfallen können. Und wir wollen nicht vergessen, dass Deutschland und Tschechien erfolgreich und gemeinsam für das Gelingen des großen europäischen Projekts arbeiten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der tschechischen Tageszeitung Lidové Noviny ein Schriftinterview gegeben, das am 8. September erschienen ist:

Herr Bundespräsident, Sie haben in diesem Jahr den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zu Ihrem Sommerfest ins Schloss Bellevue eingeladen. Was hat Sie, abgesehen vom 25-jährigen Bestehen dieser Institution, zu dieser Entscheidung bewogen?

Ich freue mich sehr, dass Tschechien das europäische Partnerland beim diesjährigen Bürgerfest im Park von Schloss Bellevue ist. Es gibt mehrere Anlässe, die Freundschaft zwischen Deutschland und Tschechien zu feiern. Letztes Jahr haben wir den 25. Jahrestag der Deutsch-Tschechischen Erklärung gefeiert – ein zentraler Pfeiler der vertrauensvollen Beziehungen unserer beiden Länder. Auch der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds, der sein 25. Jubiläum begeht, darf da natürlich nicht fehlen. Er trägt vielfach zur Vertiefung der Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern bei. Und auch bei der Gestaltung des Bürgerfestes hat er in diesem Jahr mitgewirkt. Die Gäste können sich darauf freuen, Initiativen und Projekte kennenzulernen, die unsere gute Nachbarschaft und damit gelebtes Europa erfahrbar machen. Und zwar ganz nach dem diesjährigen Motto des Bürgerfestes: "Im Wir verbunden". Wie nah wir Deutsche und Tschechen uns im wortwörtlichen Sinne sind, verdeutlicht auch der vom Zukunftsfonds organisierte Sonderzug. Er wird Gäste aus Prag hierher nach Berlin bringen – auch den tschechischen Außenminister Jan Lipavský. Über sein Kommen freuen wir uns sehr.

Der Zukunftsfonds ist aus der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 hervorgegangen, die seinerzeit von den Regierungschefs Helmut Kohl und Václav Klaus unterzeichnet wurde. Was waren damals Ihre Erwartungen - als Politiker der Opposition - an diese Erklärung und an die darin beschlossene Gründung und Finanzierung des Fonds und des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums?

Die Deutsch-Tschechische Erklärung war ein großes Versöhnungswerk. Sie bedeutete einen grundlegenden Schritt für die Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien und versprach damit eine Stärkung der engen Zusammenarbeit. Nicht umsonst nannte der ehemalige tschechische Staatspräsident Václav Havel die Erklärung "eine wahrhaft historische Chance, die nicht vertan werden darf". Der daraus geborene Zukunftsfonds als Institution und das Gesprächsforum als Dialogformat sollten Impulse setzen für die Vertiefung der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit. Und sie haben diesen Auftrag seit ihrer Gründung bis heute erfüllt: Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur Verständigungs- und Versöhnungsarbeit zwischen unseren beiden Ländern geleistet. Und sie bilden eine wichtige Säule für die vielfachen zivilgesellschaftlichen Bindungen zwischen Tschechien und Deutschland.

Die Deutsch-Tschechische Erklärung war ein diplomatisches Kunststück, indem über die besonders konfliktträchtige Frage – die Vertreibung der deutschen Minderheit nach 1945 auf der Basis der Beneš-Dekrete – festgehalten wurde: Da haben wir unterschiedliche Auffassung, aber das soll unsere Beziehungen in Zukunft nicht mehr behindern. Ist mit dieser Ausklammerung das letzte Wort gesprochen, oder bleibt es künftigen Generationen vorbehalten, dieses Thema aufzuarbeiten, wenn die Zeit dafür reif ist?

Das 20. Jahrhundert hat viele Wunden hinterlassen, vor allem verursacht durch das NS-Terrorregime. Mein Land hat im Zweiten Weltkrieg großes Unheil über seine Nachbarn gebracht: Besatzung, Verwüstung, Ermordung. Diese schlimmen Geschehnisse haben die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts überschattet und auch das Verhältnis unserer beiden Länder schwer belastet. Im Kern der Deutsch-Tschechischen Erklärung steht die Zusicherung beider Seiten, unsere Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft künftig fortzuentwickeln und nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen zu belasten. Die Zukunft in den Blick zu nehmen, heißt aber nicht, dass die Vergangenheit mit der Erklärung abgeschlossen sein sollte. Vielmehr wurde das Thema an die gesellschaftliche Debatte weitergeleitet, gestützt auf die Deutsch-Tschechische Historikerkommission und die neu gegründeten Institutionen wie den Zukunftsfonds, das Gesprächsforum und später auch das Jugendforum. Die Debatte wurde und wird also durchaus weitergeführt. So hat zum Beispiel die tschechische Seite in Ústí nad Labem, dem einstigen Aussig, ein Museum "Unsere Deutschen" eingerichtet, das ich mir 2021 vor der Eröffnung anschauen konnte. Solche Initiativen setzen wichtige Impulse. Die vielen Schritte hin zu Aufarbeitung und Versöhnung seit der Erklärung zeugen vom Erfolg unserer Bemühungen, das Vertrauen zwischen unseren Ländern zu stärken. Im Wissen um unsere Vergangenheit richten wir unseren gemeinsamen Blick in die Zukunft.

Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind heute so gut wie noch nie. Braucht es dann den Zukunftsfonds noch? Und wenn ja, weshalb? Sollte er neue Akzente setzen?

Geboren aus der Deutsch-Tschechischen Erklärung 1997, widmete sich der Zukunftsfonds in den ersten Jahren seiner Existenz der Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus. Neben seiner wesentlichen Rolle in der Aussöhnung zwischen unseren Ländern ist der Zukunftsfonds seit vielen Jahren aber auch maßgeblicher Akteur und wichtiger Förderer der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit – vom Jugendaustausch über Kultur, Bildung, Sprachunterricht bis hin zur Pflege von Minderheiten. Der Zukunftsfonds leistet weiter einen außerordentlichen Beitrag als Brückenbauer zwischen Deutschen und Tschechen, indem er Räume schafft, in denen sich Menschen begegnen, sich näherkommen und inspirieren. Von 1998 bis heute wurden über 13.000 Ideen und kreative Projekte gefördert. Unsere deutsch-tschechische Nachbarschaft lebt von den Menschen und Begegnungen – insofern ist und bleibt die Arbeit des Zukunftsfonds relevant und wichtig.

Wenn der Zukunftsfonds weiter sinnvoll und notwendig ist, dann sagt das ja umgekehrt auch: Ohne diesen Träger und Motor stünde es um die deutsch-tschechischen Beziehungen längst nicht so gut. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Das würde ich so nicht sagen. Deutschland und Tschechien sind enge Partner, gute Nachbarn und Freunde. Davon zeugt auch der frühzeitige Besuch von Präsident Pavel in Deutschland im März, kaum zwei Wochen nach seinem Amtsantritt. Gerne denke ich auch an meinen letzten Besuch in Tschechien im August 2021 zurück, als ich mit dem Zug nach Prag gefahren bin. Freundschaften muss man pflegen. Das gilt nicht nur im Privaten. Zwischen Deutschland und Tschechien gibt es einen intensiven Austausch auf vielen Ebenen, ob in Politik, Wirtschaft, Umweltschutz, Tourismus, Bildung, Kultur oder Zivilgesellschaft. Und es gibt den täglichen persönlichen Austausch zwischen den Menschen, vor allem natürlich in den deutsch-tschechischen Grenzregionen. Um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter zu stärken, planen wir dieses Jahr in Chemnitz das erste Deutsch-Tschechische Regionalforum. Zudem existieren zahlreiche Städtepartnerschaften. Das diesjährige Bürgerfest gibt einen Einblick in die Vielfalt unserer beiderseitigen Beziehungen.

In beiden Ländern sind, wenn man auf aktuelle Umfragen schaut, populistische und rechtsradikale Parteien auf dem Vormarsch. Sollten wir uns stärker darauf einstellen, dass das Erreichte doch auch wieder bedroht ist?

Wir leben in einer Zeit großer überlappender oder aufeinander folgender Krisen. Als wir gerade das Gefühl hatten, wir hätten die Pandemie im Griff, brach der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine los. Hinzu kommt das immer akuter werdende Gefühl der Bedrohung durch den Klimawandel. Wir leben in einer Gesellschaft im Dauerstress und das führt dazu, dass viele sich von den anstehenden Veränderungen überfordert fühlen. Wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung, die Verächter unserer Demokratie in die Schranken zu weisen und uns für unsere Demokratie einzusetzen. Wir müssen in Erinnerung rufen, dass wir gerade mit der Zusammenarbeit unserer Demokratien Krisen überwunden und Stabilität gewahrt haben. Ich sehe weltweit kein autoritäres System, das das in ähnlicher Weise geschafft hat. Demokratie hat Vertrauen verdient. Und die russische Invasion hat nochmal mehr gezeigt, dass wir unsere Freiheit und Demokratie heute erneut gegen ihre Feinde verteidigen müssen.

Viele politische Akteure in Tschechien fühlen sich vom großen Nachbarn Deutschland ignoriert. Häufig werde man auch von oben herab behandelt – bei Klimaschutz und Kernenergie, in der Flüchtlingspolitik und phasenweise auch während der Corona-Pandemie. Mehr Aufmerksamkeit von Berlin bekommen in der Regel solche Nachbarn, mit denen es nicht so konfliktfrei läuft, wie zum Beispiel Polen. Wie kommt man aus diesem Dilemma raus? Politischen Stress machen, um beachtet zu werden, kann ja nicht die Lösung sein?

Wenn heute das deutsch-tschechische Verhältnis weniger im Fokus der Öffentlichkeit steht, ist das vielleicht sogar eine Auszeichnung. Ich habe aber keinesfalls das Gefühl, dass in Deutschland Tschechien oder tschechische Anliegen auf weniger Interesse oder Wohlwollen stoßen. Wir stehen alle vor der Herausforderung, gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation zu gestalten und da wird naturgemäß um Lösungen gerungen, die auch unterschiedlich ausfallen können. Und wir wollen nicht vergessen, dass Deutschland und Tschechien erfolgreich und gemeinsam für das Gelingen des großen europäischen Projekts arbeiten. Was unsere Vorgänger nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Weg gebracht haben, was nach 1990 an europäischer Integration gelungen ist, das wollen und müssen wir für die zukünftigen Generationen erhalten und fortentwickeln.

Der Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Koordinaten der deutschen Außenpolitik mächtig verschoben. Tschechien nimmt für sich in Anspruch, das Regime in Moskau schon immer anders und realistischer gesehen zu haben. "Wir haben etwas zu sagen", hat der neue Präsident Pavel sinngemäß erklärt. Wenn Deutschland seine Politik in Mittel- und Osteuropa definiert: Ist es nicht an der Zeit, den strategischen Dialog mit Tschechien zu einer strategischen Partnerschaft aufzuwerten und diese auch öffentlich viel stärker sichtbar zu machen?

Da kann ich Präsident Pavel nur Recht geben: Tschechien hat eine Menge zu sagen! Daher habe ich persönlich den Austausch mit meinen tschechischen Kolleginnen und Mitstreitern über viele Jahrzehnte in unterschiedlichen politischen Ämtern immer geschätzt. Ihre Sicht der Dinge ist mir sehr wichtig. Mit dem Strategischen Dialog wurde in den Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien ein neues Kapitel zur noch engeren Zusammenarbeit aufgeschlagen. In den letzten acht Jahren wurde bereits viel erreicht. Im Rahmen von elf Arbeitsgruppen wurden in den letzten Jahren zahlreiche konkrete Initiativen und Projekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit angestoßen. Ich denke, diese gemeinsame Arbeit ist der richtige Weg zur Vertiefung unserer engen Partnerschaft. Die Fortschreibung des Arbeitsprogramms für 2022 bis 2024, die im vergangenen Jahr beschlossen wurde, zeigt den beiderseitigen Willen zur Fortsetzung dieser engen Kooperation.

Die Fragen stellte: Peter Lange